Spezialsituationen

intensiv­­medizinisches Management

Ziel

Ziel der SOP ist die Festlegung eines Qualitätsstandards bezüglich des intensivmedizinischen Managements von Betroffenen mit einer Myasthenia gravis (MG).

Hintergrund

Entsprechend der 2023 aktualisierten Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie sollte im Fall einer drohenden und manifesten myasthenen Krise die rasche Aufnahme und Behandlung auf einer Überwachungs- oder Intensivstation mit Erfahrung im Bereich neuromuskuläre Erkrankungen erfolgen. Als myasthene Krise wird eine lebensbedrohliche Exazerbation der MG definiert, die zur Notwendigkeit einer invasiven oder nicht-invasiven Beatmung führt, oft als Folge einer zunehmenden Schwäche der respiratorischen Muskulatur, aber auch durch bulbäre Schwäche bzw. gefährdeten Atemweg. Die myasthene Krise tritt bei Patienten mit MG in bis zu 15-20% auf, üblicherweise in den ersten 2-3 Jahren der Erkrankung. In bis zu 20% der Fälle ist die Krise gleichzeitig die Erstmanifestation der MG. Eine Letalität von 5-10% wurde berichtet (Claytor et al. 2023, Schroeter M et al. 2018).

Ein akuter Beginn ist eher selten, sodass typischerweise ein Behandlungszeitfenster entsteht, in dem man einer manifesten Krise vorbeugen kann. Als Trigger für eine Verlegung auf eine Intensiveinheit sollte eine rasche klinische Verschlechterung der bulbären und respiratorischen Muskelschwäche gesehen werden.

Krisensymptome || Anzeichen für eine drohende myasthene Krise

  • progrediente Schluckstörung, inkl. inverse Aspiration (Speisen und Getränke gelangen beim Schluckakt in die Nase)
  • insuffizienter Schluckakt mit räuspern nach dem Schlucken
  • abgeschwächte Schutzreflexe im Sinne eines verminderten Hustenstoßes
  • im Satzverlauf zunehmende Phonationsschwäche/ Dysarthrie
  • Abnahme der Vitalkapazität < 1500 ml Männern bzw. < 1000 ml Frauen (bzw. 20 ml/kg Körpergewicht)
  • dropped chin: Unterkiefer fällt nach unten nach (längerem) Kauen
  • dropped head: Kopf fällt nach vorn, fixierte Parese der Kopfstrecker
  • neue faziale Schwäche
  • zeitliches Kriterium: eine progrediente Verschlechterung der myasthenen Symptome in den letzten Tagen, längstens 30 Tage

Intensivmed. Maßnahmen

Zu den allgemeinen Maßnahmen bei der Erstversorgung der Patienten mit einer drohenden oder manifesten myasthenen Krise gehören die Stabilisierung der respiratorischen Situation sowie das Behandeln / Beheben / Entfernen der möglichen Trigger.

Allgemeine Maßnahmen

  • Kardiorespiratorisches Monitoring etablieren
  • Umstellung der Acetylcholinesterase-(AChE) Hemmer auf intravenöse Therapie, Dosisanpassung nach der Klinik
    – Umrechnungsfaktor oral: parenteral
    Pyridostigmin i.v.: 30:1
    – ersatzweise Neostigmin i.v.: 80: 1
  • Versorgung mit Magensonde
  • mind. 2 periphere Verweilkatheter (PVK), Indikation zur Anlage eines zentralen Venenkatheters (ZVK) prüfen, ggf. frühzeitige Shaldon-Katheter-Anlage
  • Thromboseprophylaxe
  • ACE-Hemmer absetzen / umstellen

Maßnahmen bei respiratorischer Insuffizienz

  • Lagerung mit erhöhtem Oberkörper, Rachen freihalten, eventuell Guedel-Tubus, Sekrete und Speichel absaugen, Sauerstoffmaske, Sauerstoffsättigung, Vitalkapazität überwachen
  • Anlage eines arteriellen Zugangs zur besseren Überwachung der respiratorischen Situation und Kompensationsmechanismen erwägen
  • Nicht-invasive Beatmung (1. Wahl!) – solange keine Kontraindikation besteht – frühzeitig bei
    – Tachypnoe
    Einsatz der Atemhilfsmuskulatur
    Hyperkapnie
    – Hypoxämie trotz Sauerstofftherapie
  • Intubation und invasive Beatmung bei
    – Versagen der nicht-invasiven Ventilation (NIV) (frühzeitig)
    Vitalkapazität (VC) < 20 ml/kg
    hoher Sekretlast
    – schwerer Dysphagie
    – Schock
    – Sepsis
    – Myokardinfarkt
    – Agitiertheit (umstritten)
    – zu erwartendem erschwertem / prolongiertem Weaning Tracheotomie

    Es sollte eine elektive Intubation angestrebt werden.

Identifikation und Behandlung der Trigger

  • Notfall-Labor inkl. Elektrolyte, Differenzialblutbild , PCT und CRP
  • mikrobiologisches Material (Blutkulturen, Urin, Trachealsekret, Abstriche) asservieren
  • Bei Infektkonstellation kalkulierte Antibiose, vorzugsweise mit Cephalosporinen der dritten Generation
  • Vormedikation auf potenziell Myasthenie-verschlechternde Medikamente überprüfen (Bsp. siehe Tabelle 1)
StoffgruppeBeispiele
BenzodiazepineTavor, Diazepam
BetablockerPropranolol, Timolol
Calciumantagonisten vom Nicht-
Nifedipin-Typ
Verapamil
DiuretikaSchleifendiuretika, Acetazolamid
GyrasehemmerMoxifloxacin
Neuroleptika Opipramol, Sulpirid
Magnesium in hohen Dosen
MakrolideAzithromycin, Clarithromycin
Steroide, hochdosiertDexamethason, Methylprednisolon
TetrazyklineDoxycyclin
 
Tabelle 1
Übersicht potenziell Myasthenie-verschlechternde Medikamente

Spezielle Maßnahmen

  • Sedierungsmanagement: es werden bevorzugt Sedativa mit kurzer Halbwertszeit verabreicht, z.B. Propofol. Benzodiazepine sind zu vermeiden!
  • nur nicht-depolarisierende Relaxanzien bevorzugen, Sugammadex-Verfügbarkeit überprüfen
  • Vorsicht mit Opiaten / Opioiden geboten, ggf. ultrakurzwirksame Substanzen wie Remifentanil bevorzugen
  • Delirprophylaxe:
    Als grundlegende Maßnahmen sollten eine Herstellung eines Tag-Nacht-Rhythmus (ggf. mit Gabe von Melatonin), physiotherapeutische Maßnahmen, Mobilisierung, regelmäßiger Besuch von Angehörigen, das Zurverfügungstellen einer Uhr und Tageszeitungen zum Einsatz kommen. Sofern eine medikamentöse Therapie notwendig wird, können niedrigpotente Neuroleptika wie Pipamperon oder Melperon zum Einsatz kommen.

Spezifische medikamentöse Therapie || bei krisenhafter Verschlechterung

a) Symptomatische Therapie

Seit den 1930er Jahren wird die symptomatische Therapie mit Pyridostigmin durchgeführt. Cholinerge Nebenwirkungen, wie z.B. Bradykardien, Muskelkrämpfe, Magen-/Darmkrämpfe, vermehrtes Schwitzen oder Blasen-/Mastdarmstörungen (Inkontinenz, Diarrhoe), können dosisabhängig auftreten und damit letztlich therapielimitierend sein, wobei es erhebliche interindividuelle Unterschiede bzgl. der max. tolerablen Dosis gibt (30 mg/d – 450 mg/d). 

Darüber hinaus können die Symptome einer massiven Überdosierung (cholinerge Krise) mit den Symptomen einer myasthenen Krise verwechselt werden, da beide die Muskelschwäche als führendes Symptom haben. Auf Grund einer Reihe von Charakteristika lassen sich beide Formen der Krisen unterscheiden (s. Tabelle 2). In der Praxis entwickelt sich die cholinerge Krise durch steigenden Gebrauch von Pyridostigmin häufig auf dem Boden einer sich entwickelnden myasthenen Krise, man spricht dann von einer Mischkrise. Eine cholinerge Krise wird bei Dosen von Acetylcholinesterase-Inhibitoren über 600 mg pro Tag und an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen hervorgerufen.

Myasthene KriseCholinerge Krise
muskarinergnikotinerg
KlinikMydriasisMiosisFaszikulationen
Blässevermehrter TränenflussWadenkrämpfe
Tachykardievermehrtes SchwitzenTremor
schwacher MuskeltonusHypersalivationAtemlähmung
AteminsuffizienzBradykardieVerwirrtheit
Schluck-, SprachstörungDiarrhoeKoma
generalisierte ParesenKoliken
Tabelle 2
Übersicht Symptomatik Differenzierung einer cholinergen versus myasthenen Krise

Sofern ein Patient bereits beatmet ist, sollte eine Reduktion der Pyridostigmindosis angestrebt werden, da hohe Dosen davon zu einer vermehrten bronchialen Schleimsekretion führen und eine respiratorinduzierte Pneumonie begünstigen.

Pyridostigmin oral
mg/d
Pyridostigmin i.v.
mg/d
Mestinon Perfusor
10 mg / 50 ml (= 0,2 mg/ml)
301
1444,81 ml/h
2167,21,5 ml/h
2889,62 ml/h
360122,5 ml/h
Tabelle 3
Umrechnung Pyrodostigmin i.v. zu oral

b) Immunmodulatorische Therapie

In der Behandlung myasthener Exazerbation sind nach den aktuellen DGN-Leitlinien Aphereseverfahren (Plasmapherese (engl. Plasma exchange; PE), Immunadsorption (IA)) und intravenöse Immunglobuline (IVIG) gleich zu sehen. Die Entscheidung für PE oder IVIG sollte daher von individuellen Patientenfaktoren und möglichen Kontraindikationen für eine PE/IA abhängen.

IVIG

  • Indikationen für eine IVIG-Therapie sind:
    – myasthene Krise, insbesondere bei Kontraindikationen für Plasmapherese
    – Exazerbation der Myasthenia gravis insbesondere bei Myasthenie-bedingter Dysphagie und Ruhedyspnoe (zugelassene „Off-Label“ Therapie)
    – bei (schwerer) Exazerbation der myasthenen Symptome bei Patienten mit therapierefraktären Behinderungen 
  • 0,4g/kg Körpergewicht (KG) auf fünf aufeinanderfolgenden Tagen bzw. 2g/kg KG insgesamt
  • Kontraindikation: Hyperkoagulabilität, Nierenversagen, Überempfindlichkeit, IgA-Mangel
  • zum Ausschluss eines IgA-Mangels erfolgt vor geplanter Erstbehandlung mit Immunglobulinen (IVIG) eine einmalige Bestimmung der IgA-Konzentration im Serum 

Plasmapherese

  • Indikationen:
    – myasthene Krise (MGFA V)
    – schwerste Exazerbation / beginnende myasthene Krise (MGFA IVb) präoperativ zur Symptomverbesserung/-stabilisierung (inkl. Thymektomie)
    – vor Beginn einer hochdosierten Steroidtherapie bei schwerer Myasthenie
  • Kontraindikation: Sepsis
  • 5 bis 10 Zyklen (anfangs auch täglich, meist an jedem zweiten Tag das ein- bis eineinhalbfache Plasmavolumen) bis zur klinischen Stabilisierung 
  • Substitution mit Humanalbumin während jeder Behandlung
  • Cave: Gefährdung multimorbider Patienten, insbesondere mit Herzerkrankungen, durch Volumenbelastung
  • erhöhte Blutungsneigung durch Entfernung von Gerinnungsfaktoren und aPTT-wirksamer Heparinisierung oder alternativ nur Heparinisierung während der Behandlung
  • häufige unerwünschte Nebenwirkungen (UAW): Hypotension bis katecholaminpflichtige Kreislaufinstabilität

Immunadsorption

  • als Alternative zur PE zu sehen
  • Indikation: wie PE
    – fehlende Notwendigkeit zur Substitution von Plasmaproteinen
    – zum Teil fehlende Störung der Gerinnungsverhältnisse
    – Möglichkeit zu höheren Austauschvolumina ohne kritische Volumenschwankungen
  • Kontraindikation: ACE-Hemmer-Therapie

Glukokortikosteroide

  • sind nicht Mittel der ersten Wahl bei einer myasthenen Krise
  • sollten parallel zu IVIG oder PE/IA begonnen werden
  • Startdosis z.B. 1 mg/kg Körpergewicht oder 100 mg i.v., p.o. oder per nasogastraler Sonde

Nichtsteroidale (NS) Langzeitimmunsuppressiva

Patienten mit einer generalisierten Verlaufsform sind zumeist auf eine langjährige Immunsuppression angewiesen. Die Steroidtherapie ist häufig sehr wirksam, so dass sie nach wie vor die Therapie der ersten Wahl darstellt. Sie ist jedoch mit zahlreichen Nebenwirkungen verbunden, sodass im Falle einer weiterhin bestehenden Steroidpflichtigkeit oberhalb der Cushing-Schwelle von 7,5 mg bzw. ungenügender klinischen Remission der myasthenen Beschwerden Basisimmuntherapien zum Einsatz kommen.

Daher empfiehlt sich, sofern vor der myasthenen Krise noch keine NS-Immunsuppression etabliert wurde und ein akuter schwerwiegender Infekt behandelt bzw. ausgeschlossen wurde, eine Therapie gemäß der aktuellen DGN-Leitlinie einzuleiten.

Thymektomie

Die Thymektomie bei einer MG ist keine Notfalltherapie und sollte nur bei klinisch stabilen Patienten vorgenommen werden.

Der MGTX-Trial hat belegt, dass die elektive Thymektomie bei AChR-Ak-positiven, generalisierten MG-Patienten, die jünger als 65 Jahre alt sind und deren Erkrankungsdauer kürzer als 5 Jahre ist, fester Bestandteil der immunmodulatorischen Therapie darstellen sollte (Wolfe et al. 2016).

Referenzen

DGN-Leitlinie Diagnostik und Therapie myasthener Syndrome AWMF-Registernummer:030/087

Neurologie compact, 9. Ausgabe Uptodate myasthenic crisis

Fink, Gereon R. et al.: 2018 SOPs Neurologie DOI: 10.1055/b-0038-164084

Literaturverzeichnis

Claytor, Cho, und Li, „Myasthenic Crisis“

Schroeter, Thayssen, und Kaiser, „Myasthenia Gravis – Exacerbation and Crisis“

Wolfe u. a., „Randomized Trial of Thymectomy in Myasthenia Gravis“

Autoren

Diese Empfehlung wurde von der Deutschen Myasthenie Gesellschaft e. V. unter der Federführung folgender Autoren erstellt:

PD Dr. med. Jana Zschüntzsch

Klinik für Neurologie, Universitätsmedizin Göttingen

Ariana M. Seraji

Klinik für Neurologie, Universitätsmedizin Göttingen

Dr. med. Stefanie Glaubitz

Klinik für Neurologie, Universitätsmedizin Göttingen

Dr. med. Lina Hassoun

Klinik für Neurologie, Universitätsmedizin Göttingen

Dr. med. Frauke Stascheit

Klinik für Neurologie, Charité- Universitätsmedizin Berlin
Neuroscience Clinical Research Center

Autoren

PD Dr. med. Jana Zschüntzsch
Dr. med. Stefanie Glaubitz
Dr. med. Lina Hassoun
Ariana M. Seraji 

Klinik für Neurologie, Universitätsmedizin Göttingen

Dr. med. Frauke Stascheit

Klinik für Neurologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Neuroscience Clinical Research Center