ALLGEMEINES UND PATHOPHYSIOLOGIE
Das Lambert-Eaton-Myasthenie-Syndrom (LEMS) ist eine seltene Autoimmunerkrankung, die durch eine gestörte Signalübertragung an der neuromuskulären Endplatte gekennzeichnet ist. Ursache sind Autoantikörper gegen spannungsabhängige Kalziumkanäle vom P/Q-Typ (VGCC) an der präsynaptischen Nervenendigung. Durch Bindung der Antikörper kommt es zu einer Kreuzvernetzung und Internalisierung der Kanäle, wodurch der Kalziumeinstrom bei Depolarisation reduziert wird. In der Folge ist die Freisetzung von Acetylcholin vermindert, sodass die Aktivierung der postsynaptischen Membran unzureichend ist und die neuromuskuläre Transmission versagt. 1
Etwa 50–60 % der Patienten haben ein paraneoplastisches LEMS, meist im Zusammenhang mit einem kleinzelligen Bronchialkarzinom (SCLC). Die Tumorzellen exprimieren ebenfalls Kalziumkanäle und fungieren in diesen Fällen als Trigger der Autoimmunreaktion. In den übrigen Fällen handelt es sich um ein primär autoimmunes, nicht-paraneoplastisches LEMS, das häufig jüngere Patienten, insbesondere Frauen, betrifft und nicht selten mit anderen Autoimmunerkrankungen assoziiert ist. 2
KLINISCHE MANIFESTATION
Charakteristisch für das LEMS ist eine Trias aus:
- Belastungsabhängiger, proximal betonter Muskelschwäche,
- Hypo- oder Areflexie,
- Autonome Funktionsstörungen
Die Schwäche betrifft vorrangig Hüft- und Oberschenkelmuskulatur, seltener Schultergürtel und Oberarme. Das Aufstehen aus dem Sitzen oder Treppensteigen ist typischerweise erschwert. Okuläre und bulbäre Symptome treten im Gegensatz zur Myasthenia gravis (MG) weniger häufig auf. Charakteristisch ist das „Warming-up“-Phänomen: Nach wiederholter Muskelaktivität bessern sich Kraft und Reflexe vorübergehend, was auf die aktivitätsbedingt vermehrte Acetylcholinfreisetzung zurückzuführen ist. 1
Autonome Symptome sind häufig und umfassen Xerostomie, Hypohidrose, Obstipation, orthostatische Beschwerden, verzögerte Pupillenreaktion sowie bei Männern auch Impotenz und Harnverhalt. Muskelschmerzen treten beim LEMS häufiger auf als bei der MG. Die klinische Präsentation kann bei fortschreitender Schwäche myopathischen Krankheitsbildern ähneln [Lipka 2024; Wiendl 2022].
DIAGNOSTIK
Die Zusatzdiagnostik des LEMS umfasst elektrophysiologische und serologische Untersuchungen:
Elektrophysiologie: Typischerweise finden sich niedrige Summenaktionspotentiale (CMAPs) in Ruhe, was zunächst eine motorische Neuropathie vortäuschen kann. Die Ursache ist jedoch keine axonale Schädigung, sondern die verminderte Acetylcholinfreisetzung an der präsynaptischen Endplatte. Bei niederfrequenter repetitiver Stimulation (2–3 Hz) zeigt sich ein Dekrement ≥ 10 %, ähnlich wie bei Myasthenia gravis. Charakteristisch ist jedoch ein Inkrement der CMAP-Amplitude: Dieses tritt entweder nach kurzer maximaler Willkürinnervation (10 Sekunden) oder bei (schmerzhafter) hochfrequenter Stimulation (20–50 Hz) auf und findet sich bei etwa 90 % der Patienten. Es reflektiert die Aktivitätsabhängigkeit mit gesteigerter präsynaptischer Kalziumakkumulation und folglich erhöhter Acetylcholinfreisetzung. 3
Serologie: P/Q-Typ-VGCC-Antikörper sind bei etwa 85–90 % der Patienten nachweisbar und hochspezifisch [Lipka 2024].
TUMORSUCHE UND VERLAUFSKONTROLLE
Da in 50–60 % der Fälle ein kleinzelliges Bronchialkarzinom zugrunde liegt, ist eine systematische Tumorsuche obligat. Standard ist ein Thorax-CT. Bei Risikopatienten (Raucher, Alter ≥ 50 Jahre) und unauffälligem CT wird eine FDG-PET/CT empfohlen.
Der DELTA-P-Score dient als klinisches Instrument zur Abschätzung des Tumorrisikos und umfasst sechs Risikofaktoren:
D – Dysarthrie (bzw. bulbäre Symptome wie Dysphagie, Kau- oder Nackenmuskelschwäche)
E – Erektile Dysfunktion (bei Männern)
L – Loss of weight: Gewichtsverlust ≥ 5 % innerhalb von 3 Monaten
T – Tabakkonsum zum Erkrankungsbeginn
A – Alter ≥ 50 Jahre
P – Performance: Karnofsky-Index < 70
Ein Score ≥ 3 weist mit > 90 % Wahrscheinlichkeit auf ein paraneoplastisches LEMS hin. 4
Ferner ist der Nachweis von SOX1-Antikörpern ein starker Hinweis auf eine paraneoplastische Genese. Diese finden sich bei rund zwei Dritteln der Betroffenen mit tumorassoziiertem LEMS, sind jedoch bei idiopathischen Fällen selten. 5
Da die Mehrzahl der Tumoren innerhalb der ersten beiden Jahre nach Beginn des LEMS entdeckt wird, ist eine engmaschige Bildgebung erforderlich:
- initiales Thorax-CT (bei unauffälligem Befund ergänzend FDG-PET/CT),
- bei unauffälligem Erstbefund Wiederholung alle 3–6 Monate für mindestens 2 Jahre,
- anschließend jährliche Screenings über bis zu drei Jahre, abhängig vom individuellen Risiko. 6
THERAPIE
Die Behandlung des LEMS erfolgt stufenweise und umfasst symptomatische, immunmodulatorische sowie onkologische Maßnahmen.
- Symptomatische Therapie Erstlinientherapie ist Amifampridin (3,4-Diaminopyridin), ein Kaliumkanalblocker, der die präsynaptische Depolarisation verlängert und die Acetylcholinfreisetzung steigert. Beginn mit 15 mg/Tag, langsame Aufdosierung bis 60 mg/Tag (in Einzelfällen bis 100 mg). Häufige Nebenwirkungen sind Parästhesien, gastrointestinale Beschwerden und epileptische Anfälle. Kontraindikationen sind u. a. Epilepsie und QT-Verlängerung. Pyridostigmin kann additiv eingesetzt werden.
- Immunmodulation Bei unzureichender Symptomkontrolle kommen Immunsuppressiva wie Prednisolon, Azathioprin oder Mycophenolatmofetil in Betracht. Rituximab wird zunehmend erfolgreich eingesetzt, insbesondere bei therapierefraktären Verläufen. Intravenöse Immunglobuline (IVIG) und Plasmapherese können in akuten Situationen kurzfristig wirksam sein.
- Tumorbehandlung Im paraneoplastischen LEMS steht die Behandlung des zugrunde liegenden Tumors (Chemotherapie, Bestrahlung, Operation) im Vordergrund. Eine effektive Tumortherapie bessert in der Regel die LEMS-Symptome deutlich.
PROGNOSE
Die Prognose hängt stark von der zugrunde liegenden Ätiologie ab. Beim idiopathischen LEMS ist die Lebenserwartung in der Regel nicht eingeschränkt, die Lebensqualität kann jedoch durch persistierende Schwäche und autonome Symptome beeinträchtigt sein. Unter adäquater Therapie stabilisieren sich die Symptome meist und können sich im Verlauf bessern [Lipka 2020]. Beim paraneoplastischen LEMS wird die Prognose maßgeblich durch die Tumorerkrankung bestimmt; Das Vorliegen eines LEMS gilt beim kleinzelligen Bronchialkarzinom jedoch als ein günstiger prognostischer Marker.
Quellen
- Lipka, A.F. and J. Verschuuren, Lambert-Eaton myasthenic syndrome. Handb Clin Neurol, 2024. 200: p. 307–325.
- Titulaer, M.J., B. Lang, and J.J. Verschuuren, Lambert-Eaton myasthenic syndrome: from clinical characteristics to therapeutic strategies. Lancet Neurol, 2011. 10(12): p. 1098–107.
- Oh, S.J., Y. Hatanaka, G.C. Claussen, and E. Sher, Electrophysiological differences in seropositive and seronegative Lambert-Eaton myasthenic syndrome. Muscle Nerve, 2007. 35(2): p. 178–83.
- Titulaer, M.J., P. Maddison, J.K. Sont, P.W. Wirtz, D. Hilton-Jones, R. Klooster, et al., Clinical Dutch-English Lambert-Eaton Myasthenic syndrome (LEMS) tumor association prediction score accurately predicts small-cell lung cancer in the LEMS. J Clin Oncol, 2011. 29(7): p. 902–8.
- Sabater, L., M. Titulaer, A. Saiz, J. Verschuuren, A.O. Gure, and F. Graus, SOX1 antibodies are markers of paraneoplastic Lambert-Eaton myasthenic syndrome. Neurology, 2008. 70(12): p. 924–8.
- Wiendl, H. and A. Meisel, Diagnostik und Therapie myasthener Syndrome, S2k-Leitlinie, 2024, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie.
Autoren
Diese Empfehlung wurde von der Deutschen Myasthenie Gesellschaft e. V. unter der Federführung folgender Autoren erstellt:
- Univ.-Prof. Dr. med. Andreas Meisel
Klinik für Neurologie, Charité- Universitätsmedizin Berlin
Neuroscience Clinical Research Center - Univ.-Prof. Dr. med. Sarah Hoffmann
Klinik für Neurologie, Charité- Universitätsmedizin Berlin
Neuroscience Clinical Research Center - Dr. med. Hella Schmitz
Klinik für Neurologie und neurologische Intensivmedizin,
LVR-Klinik Bonn, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Bonn
Autoren