- Welche Rolle spielt der Thymus bei der Myasthenia gravis und warum kann seine Entfernung therapeutisch sinnvoll sein?
- Für welche Patientengruppen ist eine Thymektomie indiziert bzw. empfohlen?
- Welche operativen Verfahren stehen zur Verfügung?
DIE BEDEUTUNG DES THYMUS FÜR DIE MYASTHENIA GRAVIS
Der Thymus ist ein zentrales lymphatisches Organ im vorderen Mediastinum. Er ist für die Reifung von T-Lymphozyten und die Etablierung immunologischer Toleranz essenziell. Trotz physiologischer Involution ab der Pubertät bleibt eine Restfunktion bestehen. Defekte in der negativen Selektion autoreaktiver T-Zellen können Autoimmunität begünstigen. Bei der Myasthenia gravis spielt der Thymus in zwei grundsätzlichen Konstellationen eine Rolle:
- Autoimmune Myasthenia gravis (AChR-Antikörper-positiv): Häufig besteht eine Thymushyperplasie mit Keimzentren, in denen autoreaktive T- und B-Zellen persistieren. Dies fördert die Bildung pathogener Anti-AChR-Antikörper in einem chronisch-entzündlichen Milieu.
- Thymom-assoziierte Myasthenia gravis (paraneoplastisch): In 10–15 % der Fälle liegt ein Thymustumor vor, der analoge immunpathologische Mechanismen aktiviert und die Autoantikörperproduktion induziert.
Damit hat der Thymus bei relevanten Subgruppen der Myasthenia gravis pathogenetische Schlüsselbedeutung.
THYMEKTOMIE – STELLENWERT UND INDIKATION
Der Stellenwert der Thymektomie ist – insbesondere auf Basis der vorliegenden Kohorten- und Studiendaten – als sehr hoch einzuschätzen. 1–3 Verunsicherung hervorrufen konnte jedoch eine Studie, in deren Analyse Patienten nach Thymektomie eine höhere Gesamtmortalität, ein erhöhtes Krebsrisiko sowie ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Autoimmunerkrankungen aufwiesen. 4 Aufgrund gravierender methodischer Limitationen besitzt diese Arbeit jedoch keine Relevanz für die Bewertung der Thymektomie bei Myasthenia gravis. Zu den zentralen Schwächen zählen die unzureichende Vergleichbarkeit der Kontrollgruppe (Patienten mit herzchirurgischen Eingriffen) und der hohe Anteil von Thymomen und anderen Tumoren in der Thymektomie-Gruppe. Hinzu kommt der geringe Anteil an Patienten mit Myasthenia gravis in der Thymektomie-Gruppe (10 %) sowie keiner in der Kontrollgruppe. 5 Ein signifikanter Teil der berichteten Unterschiede zwischen den Gruppen erklärt sich durch die Tatsache, dass Patienten mit Thymomen per se ein erhöhtes Risiko für Mortalität, Tumorerkrankungen und die Entwicklung von Autoimmunerkrankungen aufweisen. Demgegenüber zeigen insbesondere die Daten des MGTX-Trials (siehe unten) eindeutig, dass für MG-Patienten nach Thymektomie keinerlei Hinweis auf erhöhte Risiken insbesondere für die Mortalität besteht. 2,3
THYMEKTOMIE ZUR IMMUNMODULATION
Ziel der Thymektomie ist die Ausschaltung thymusassoziierter Autoimmunmechanismen mit dem Potenzial, den Krankheitsverlauf günstig zu beeinflussen und eine dauerhafte Immunsuppression zu reduzieren oder überflüssig zu machen.
Seit den 1950er-Jahren etablierte sich die Thymektomie als Standard bei AChR-Antikörper-positiver, generalisierter Myasthenia gravis. Der wissenschaftliche Wirksamkeitsnachweis erfolgte durch die prospektiv-randomisierte MGTX-Studie, die für nicht-thymomassoziierte, AChR-AK-positive Patienten im Alter von 18–65 Jahren eine signifikante Reduktion der Symptomatik und des Steroidbedarfs bereits nach 9–12 Monaten belegte, mit weiteren Vorteilen im Langzeitverlauf. 1–3
Optimale Bedingungen:
- Durchführung so früh wie möglich, in der Regel nicht später als nach 2 Krankheitsjahren
- bestmögliche medikamentöse Stabilisierung präoperativ
- bessere Ergebnisse bei jüngeren Patienten
Prognostische Marker:
- Nachweis einer Thymushyperplasie mit Keimzentren (histologisch) korreliert mit besonders guten Langzeitergebnissen.
Patientengruppen:
- AChR-AK-positiv, generalisierte Myasthenia gravis, Lebensalter 18–65 Jahre, Krankheitsdauer < 2 (max. 5) Jahre: klare Empfehlung (Standardindikation).
- >65 Jahre / okulärer Beginn / LRP4-positiv / seronegative Myasthenia gravis: keine RCT-Daten, aber Daten aus großen Kohorten für Nutzen → Einzelfallentscheidung nach Krankheitsaktivität, Therapieansprechen, Komorbiditäten und Patientenpräferenz.
- MuSK-AK-positiv: kein Nutzen → keine Indikation.
- Juvenile Myasthenia gravis: Bei Kindern/Jugendlichen im Alter von 5–12 Jahren in der Regel nur nach Versagen der Standardtherapien; ab 13 Jahren analog zu Erwachsenen mit AChR-AK-Nachweis. Hintergrund ist die mögliche Beeinflussung der T-Zell-Immunität im frühen Kindesalter. Klinische Daten zeigen jedoch keine negativen Effekte auf Infektions- oder Autoimmunrisiko.
- Thymom-assoziierte Myasthenia gravis: immer Indikation zur Thymektomie (sowohl aus onkologischen als auch immunologischen Gründen).
THYMEKTOMIE BEI THYMOMVERDACHT
Thymome (und seltene Thymuskarzinome) gelten als maligne Tumoren. Ihre operative Entfernung ist sowohl aufgrund der Assoziation mit Myasthenia gravis als auch wegen der mediastinalen Lokalisation indiziert: Durch Wachstum können Nachbarstrukturen verdrängt oder infiltriert werden. Die Thymektomie wird auf Basis des bildgebenden Verdachts auf ein Thymom durchgeführt, die diagnostische Sicherstellung vor der Operation mittels Biopsie gilt heute in der Regel als obsolet. 1
Diagnostik:
- Bei jeder neu diagnostizierten Myasthenia gravis gezielte Suche nach Thymom (auch im Kindes-/Jugendalter).
- Bildgebung: kontrastmittelverstärkte CT oder MRT des Thorax.
Therapieprinzipien:
- Ziel: vollständige Resektion des Thymoms, entscheidend für die Prognose.
- Wahl des Verfahrens (minimalinvasiv vs. transsternale Resektion) abhängig von Größe, Lage und chirurgischer Expertise.
- Intraoperativ/anschließend: histologische Klassifikation nach WHO, Stadieneinteilung nach Masaoka-Koga und TNM.
Interdisziplinäre Planung und Behandlung:
- Enge interdisziplinäre Abstimmung zwischen Neurologie, Thoraxchirurgie, Onkologie und Strahlentherapie.
- Auf Basis von Befundlage Entscheidung über präoperative Maßnahmen, Operationsstrategie und ggf. adjuvante und postoperative Radio(chemo)therapie.
Prognose und Verlauf:
- Prognose hängt vom Tumorstadium entsprechend den Klassifikationen ab.
- Rezidive sind möglich, insbesondere abhängig von Histologie und Resektionsqualität, daher sind regelmäßige postoperative Kontrollen auch im langjährigen Verlauf notwendig.
- Rezidivrisiko bei vollständiger Resektion in erfahrenen Zentren niedrig.
- Metastasierung ist bei Thymomen sehr selten.
Versorgungsaspekt:
- Behandlung sollte in spezialisierten Zentren erfolgen, um optimale Therapieplanung und -qualität zu gewährleisten.
OPERATIVE VERFAHREN ZUR THYMEKTOMIE
Vor der Thymektomie sollte ein stabiler, medikamentös gut eingestellter Zustand erreicht sein. Hierzu können neben den Standardtherapieverfahren sowie ggf. der modernen Zusatztherapien auch IVIG oder Plasmapherese/Immunadsorption entsprechend der Leitlinie unterstützend eingesetzt werden. Eine niedrige Prednisolon-Dosis ist günstig, die laufende Immunsuppression sollte möglichst fortgeführt werden. Die Operationsplanung erfolgt in enger interdisziplinärer Abstimmung zwischen Thoraxchirurgie, Neurologie, Anästhesiologie sowie ggf. Onkologie und Strahlentherapie. 1,5
Die Thymektomie kann über verschiedene Zugangswege durchgeführt werden, die sich in Invasivität und Anwendungsbereich unterscheiden. 5
Offene Verfahren:
- Transsternale Thymektomie: klassischer Zugang über das Sternum; optimale Übersicht bei großen Thymomen oder Infiltration benachbarter Strukturen; weiterhin Standard bei komplexen Befunden.
- Transzervikale Thymektomie: Zugang über den Hals; heute nur noch in Ausnahmefällen.
Minimalinvasive Verfahren:
- Videoassistierte thorakoskopische Thymektomie (VATS): Zugang über kleine interkostale Inzisionen mit Kameraunterstützung.
- Roboterassistierte Thymektomie: hochauflösende 3D-Darstellung, gesteuerte Instrumente mit maximaler Präzision; aktuell modernstes Verfahren.
Kriterien für die Verfahrenswahl:
- Indikation (MG ohne/mit Thymom)
- Tumorgröße, Lage, Infiltration
- chirurgische Expertise und Zentrumserfahrung
Besonderheiten:
- Minimal-invasive Verfahren → geringerer Blutverlust, kürzere Rekonvaleszenz, weniger Schmerzen, bessere Kosmetik.
- Bei nicht-thymomassoziierter Myasthenia gravis: roboterassistierte bzw. thorakoskopische Thymektomie = Goldstandard.
- Bei großen Tumoren oder ausgedehnter Infiltration: transsternale Thymektomie bevorzugt.
Grundsätzlich sollte die Thymektomie in interdisziplinären Myasthenie Zentren mit hoher Erfahrung durchgeführt werden, um die beste Prognose im Sinne einer möglichst vollständigen Resektion und Patientensicherheit zu gewährleisten. 1
Quellen
- Wiendl H., Meisel A., Marx A. et al., Diagnostik und Therapie myasthener Syndrome, S2k-Leitlinie, 2024, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 01.09.2025)
- Wolfe GI, Kaminski HJ, Aban IB et al.; MGTX Study Group. Randomized Trial of Thymectomy in Myasthenia Gravis. N Engl J Med. 375:511-22 (2016). doi: 10.1056/NEJMoa1602489
- Wolfe GI, Kaminski HJ, Aban IB et al.; Long-term effect of thymectomy plus prednisone versus prednisone alone in patients with non-thymomatous myasthenia gravis: 2-year extension of the MGTX randomised trial. Lancet Neurol. 18:259-268 (2019). doi:10.1016/S1474-4422(18)30392-2
- Kooshesh KA, Foy BH, Sykes DB et al. Health Consequences of Thymus Removal in Adults. N Engl J Med. 389:406-417 (2023). doi: 10.1056/NEJMoa2302892
- Kaminski HJ, Kusner LL, Cutter GR et al. Does Surgical Removal of the Thymus Have Deleterious Consequences? Neurology. 25;102:e209482 (2024). doi: 10.1212/WNL.0000000000209482
- Rückert JC, Swierzy M, Kohler S et al. Thymektomie bei Myasthenia Gravis. Aktuelle Neurologie 45:263-270 (2018). DOI: 10.1055/a-0582-9020
Autoren
Diese Empfehlung wurde von der Deutschen Myasthenie Gesellschaft e. V. unter der Federführung folgender Autoren erstellt:
- Dr. med. Hella Schmitz
Klinik für Neurologie und neurologische Intensivmedizin,
LVR-Klinik Bonn, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Bonn
- Univ.-Prof. Dr. med. Andreas Meisel
Klinik für Neurologie, Charité- Universitätsmedizin Berlin
Neuroscience Clinical Research Center
Autoren